Samstag, 10. Juli 2010

#9 Las Palmas de Gran Canaria


Nach über drei Wochen auf Fuerteventura setze die Locomotive ihre Füße wieder auf neuen Erde, auf millionenjahre altes Vulkangestein wie alle Kanarischen Inseln, Raphael, Nicola und Benjamin waren endlich in Las Palmas. Der Kontrast von dem verschlafenen Corralejo zu einer der größten Städte Spaniens war enorm. Tausende Häuser, hundertausende Autos und über eine Million Menschen bevölkern die einwohnerreichste der Inseln im Atlantik.

Gran Canaria liegt ungefähr in der Mitte der sieben dichtaneinanderliegenden Inseln und lebt wie all die anderen Inseln auch, vor allem vom niemals abreißenden Strom der Touristen der hauptsächlich aus Nordeuropa stammenden Sonnenanbetern die dem Winter entfliehen um hier besonders im Süden der Insel die unserbitterliche Saharasonne zu genießen. Für viele Menschen, aber besonders Pensionierte, ist es nicht nur ein temporäres entfliehen des Stresses und Kälte, sondern die zweite oder sogar erste Heimat geworden.

Für uns sollte diese traumhafte Insel mit ihrem besonders spannenden und noch oft unberührten Interior nur eine zeitlich begrenzte Zwischenstation auf dem Weg nach Mexiko werden. Der letzte Zwischenstopp in Europa bevor uns ein Schiff von hier auf die andere Seite des Atlantiks bringen sollte, doch zunächst mussten wir es noch finden. Das Schicksal führte uns in einer der wenigen besetzen Häusern der Hauptstadt der Kanarischen Inseln, “La Tomatera“ sollte unsere neue geliebte Heimat für die Zeit der Suche werden. Freundlich und mit offenen Armen begrüßte uns die lieben Hausbesetzer und wir fühlten uns von Anfang an sehr

willkommen und wohl zwischen den internationalen Gesichtern die dem Haus in der Calle Lepantu Nr. 64 Leben einhauchten. Zwei Italiener, zwei Kroaten, eine Mexikanerin, eine Argentinierin und mehrere Spanier belebten seit August 2009 das sonst verlassene und einsame Gebäude. Das typisch antike Haus, nur 3min Fußweg vom Strand entfernt, besteht aus drei „Etagen“; unten, getrennt vom Rest des Hauses, wurde der Keller in eine Werkstatt umgerüstet und bietet heute dem Kiez Möglichkeiten des Zusammentreffens. In dem „Taller“ werden regelmäßig Filmabende und andere künstlerische sowie kulturelle Aktivitäten für Nachbarn und Interessierte angeboten. Das weiträumige Dach, welches eigentlich eher eine riesengroße idyllische Teerasse ist, bietet Platz zum Party machen, kleine Gartenexperimente und die zwei Hühner die auch ab und zu mal ein Ei legen. Der Lebens- und Aufenthaltsraum befindet sich in der Mitte, also auf Straßenniveau, hier versammelt sich normalerweise die alternative Lebenscomunity zum Essen, diskutieren, austauschen und vor allem aber zum chillen und neben den Hausbewohnern mischen sich immer fremde Gesichter von Freunden, Fremden und Reisenden die das Leben in dem Haus mit der Totenkopfflagge bereichern. Desweiteren huscht immer einer der beiden Hunde die auch Teil der Tomatera sind um die Ecken und amüsiert sich und die Hausgemeinde. Nur in der Nacht erhascht man die sonst schüchternen Kakerlaken die besonders in der Küche ihren Spaß haben. Nur selten geht das Licht im Wohnzimmer vor 4 Uhr morgens aus und einige Mitbewohner leben mehr in der Nacht als am Tage, so hat jeder seinen eigenen Rhythmus und so trifft man fast immer eine wache Seele in dem schönen Altbau. Ursprünglich gehörte das Haus einer alten Frau die jedoch vor ein paar Jahren verstarb, dann gelangte das kulturell und historische wertvolle Haus in die Hände von einer in ganz Spanien aktiven aktiven Immobiliengruppe die allein in dem Viertel, der Guaranteme, hunderte historische Häuser aufkaufte und neue eintönige und auf Profit zielende Gebäude plante. Der Plan war einfach und spielt sich leider überall auf der Welt noch heute ab. Die spanische Regierung half der Gruppe sogar mit Subventionen und unterstützte somit aktiv die Zerstörung und Verunstaltung alter schöner Stadtbilder. Auch wenn schon viele Häuser der Abrisskugel zum Opfer gefallen sind und neue kahle, kalte, seelenlose und leere Bürotürme die alten Häuser ersetzt haben, stehen die meisten aufgekauften Immobilien noch, leider seit Jahren leer. Die vor sich hinfaulenden Häuser sind ungenützt und lassen Straßenabschnitte, ja ganze Viertel aussterben und wie Fratzen mit hohlen Zähnen aussehen. Niemand ist glücklich mit dieser Entwicklung abgesehen von den Spekulanten die sich ihre dicken Taschen noch weiter mit Geld vollstopfen und doch vergammeln die Häuser schlicht vor sich hin. Mittlerweile ist die Immobiliengruppe Pleite gegangen und die jetzigen Besitzer sind offiziell die Banken, aber was sind Banken eigentlich oder anders gefragt wem gehören die, besonders in Hinsicht auf die Finanzkrise die die Welt vor geraumer Zeit erheblich erschütterte? Nach der US-Immobilienkrise die im Frühsommer 2007 begann und durch den bankrott von Lehman Brothers auch die Realwirtschaft der ganzen Welt erreichte, steckten Regierung in fast allen Ländern der Welt Unsummen von Geld in das kaputte, ja kranke System, unseren geliebten Kapitalismus, Heiler aller Probleme und Profet des Wirtschaftswachstums. Weltweit wurden von Regierungen über 4000 Milliarden Dollar neue Schulden aufgenommen um den Motor des ökonomischen Wachstum nicht gänzlich zum Erliegen zu bringen, um unser System in dem die meisten von uns leben weiter am Leben zu erhalten. Wie wir alle wissen steckt im Prinzip jedes Land der Welt bis zum Hals in Schulden, gerade die reichsten Nationen, die größten Konsumländer wie die USA, Europa und Japan haben Schulden die sogar das teilweise das jährliche Bruttoinlandsprodukt der Länder überschreitet. Also woher haben unsere Regierungschefs eigentlich das Geld für die größte „Rettungsaktion“ unseres nicht funktionierenden, ja zerstörerischen Systems in dem wir leben, genommen? Sie haben es erfunden, nicht mal gedruckt wurde es, denn heute existiert die Mehrheit des Geldes ohnehin nur noch digital. Die Zeche zahlt der Bürger, ehrliche Steuerzahler, fleißige Arbeiter und Arbeiterinnen und sogar gerade die Menschen die sowieso schon in einer persönlichen Finanzkrise stecken, ja Dilemma könnte man es auch bezeichnen. Jeder fünfte deutsche Haushalt steckt tief in roten Zahlen, ja über 3 Millionen Haushalte können ihre Schulden nicht mehr bezahlen, es herrscht Angst in allen Klassen der Gesellschaft, es ist die ungewisse Zukunft die die Menschen lähmt und sie zu noch mehr Arbeit treibt. Doch wohin führt unser so oft ersehnter Wirtschaftswachstum eigentlich und was bedeutet er konkret? Wirtschaftswachstum entsteht hauptsächlich aus Investitionen, was zum größtenteil Konsum von Irgendetwas ist. Wenn sich also eine Million Bürger einen Flachbildschirmfernseher kaufen entsteht Wirtschaftwachstums, die Frage ist wohin führt uns dieser Wachstum und ist er wirklich so sehenswert, bzw. ein guter Maßstab um die „Entwicklung“ in einem Land zu messen? Denn irgendwann haben nicht nur eine Millionen Bürger einen Flachbildfernsehr in ihrem Wohnzimmer stehen, sondern alle Haushalte und vielleicht ein weiteres drittel der wohlbetuchten sogar zwei, drei die in Schlaf- und Kinderzimmer die Wände schmücken. Das gleiche gilt für Handies, Computer, Drucker, Mikrowelle, Staubsauger etc. aber schauen wir uns das Beispiel an dem schön verständlichen Auto an. Würden alle Menschen auf der Erde so viele Autos wie wir in Europa oder Nordamerika haben, hätten wir nicht „nur“ 900 Millionen Autos sondern mehr als 5 Milliarden Pkw. Unsere Mutter Erde leidet schon heute immens unter unser schonunglosen Beraubung ihrer Ressourcen, zudem wird über 80% aller abgebauten Rohstoffe unseres Planeten von nur 20% der Weltbevölkerung genutzt, wichtige Ressourcen wie Gas und Öl, die wie Schmieröl unser weltweit agierenden Kapitalismus am Laufen halten sind verantwortlich für Kriege, Umweltkatastrophen, Hass, Elend und Leid in weiten Teilen der Erde. Wohin soll uns also der ewige und von allen Parteien angepriesene Wachstum führen? Wann werden Politiker, Firmen und vor allem jeder für sich selber einsehen dass es keine endlose Straße ist die die Menschheit eingeschlagen hat und das der Weg mit sehr viel Opfern gepflastert ist. Wollen wir wirklich alle Ressourcen bis auf den letzten Tropfen, das letzte Gramm ausschöpfen, noch mehr Kriege, Ungerechtigkeit, Zerstörung von Flora und Fauna, noch größere Häuser gefüllt mit noch mehr unnützen materiellem Dingen? Wollen wir wirklich eine Welt im totalem Materialismus die noch mehr mentale und physische Mauern zwischen uns und unseren Brüdern mitbringt und am Ende uns selbst von uns selbst entfernt? Wann begreifen wir, dass der ständige Wachstum nicht die Lösung ist und wir vielleicht eher eine Schrumpfung der wirtschaftlichen Leistung brauchen und parallel ein neues, gerechtes, ehrliches und vom Herzen kommendes System/ Miteinander aufbauen was nicht auf Geld, Korruption, Bereicherung und Materialismus beruht, sondern an der Freude zu Geben und zu Nehmen, am Lieben und Helfen, einer Welt in der die Menschen füreinander und nicht gegeneinander leben!

Braucht die Menschheit immer wirtschaftliche, soziale, umweltbedingte Extremsituationen und Krisen bevor wir unseren Kurs ändern? Wissen wir nicht genau, dass es so wie wir heute leben nicht weitergehen kann? Reicht es nicht, dass schon heute im Jahr 2010 jeder siebte Erdenbewohner an Hunger leidet, jedes Jahr Millionen Menschen wegen Unterernährung sterben und soviele Brüder und Schwestern tagtäglich unter ihren Lebensbedinungen leiden? Wir sind alle Teil dieses Systems, jedes Produkt das wir kaufen hat seinen CO2 Anteil in die Atmosphäre gelassen, hat seine Geschichte die Teil des ganzen weltweitverstrickten Systems ist. Jeder Euro den wir in Sparkonten, Aktien, Rentenfonds, Staatsanleihen, Versicherung, Kreditinstituten und Andere geben, arbeitet versteckt, leise, ja fast unaufhaltsam an der Zerstörung unser Welt, bzw. ist Nahrung für das Monster was viele Namen und Gesichter hat, nennen wir es System, es ist unser Kapital-imus.

Die nächste Finanzkrise wird nicht lange auf sich warten lassen und wer weiss ob es eine weitere danach geben wird, denn wenn die Welt ohne Devisen lebt, kann es auch keine finanziellen Katastrophen mehr geben. Vielleicht sollten wir uns schon heute vorbereiten auf eine Zeit wo Dollar, Euro, Yen und wie sie nicht alle heißen, durch Hyperinflationen kontinuierlich verlieren werden. Es sind wir Menschen die dem Papier ihren Wert geben haben und sogar glauben, dass ohne die Scheine die Menschheit nur noch in Hängematten entspannen würde, es sind wir Menschen die entweder Scheinen oder Menschen Glauben und Vertrauen schenken!

Um wieder zu dem besetzen Haus zurückzukommen, wer ist also der Besitzer? Ist es der Staat, die Banken oder doch etwas was allen gehört, also den Bürgern ohne deren Hilfe das gesamte fragile Kartenhaus von Lügen, Betrug und Schein ohnehin längst zusammengefallen wäre? Die

Bewohner des wohl lebendigsten und harmonievollsten „Okupas“ (spanisch für besetzes Haus) der Kanarischen Inseln haben ihre Entscheidung schon gefällt und wir können sie in ihrem Bestreben nur bestärken und unterstützen, sind sogar richtig froh und stolz an diesem menschlichen Projekt „Tomatera“ teilnehmen zu dürfen. Alle im Haus arbeiten zusammen, jeder hat andere Fähigkeiten und es ist ein wahres Vergnügen dieses friedliches Zusammensein so hautnah mitzuerleben, ja Teil wirklich Teil zu sein! Da es kein fließend Wasser gibt, wird je nach Bedarf Leitungswasser in 8-10L Kanistern von einem um die Ecke liegenden „Ocupa“ geholt. Lange habe ich von einem Haus geträumt welches so ökologisch ist. Wo das Abwasser aus der Küche als Klohspühlwasser benutzt, und hier haben wir nun endlich ein praktisches Beispiel gefunden. Wir drei schliefen immer unter freiem Himmel, auf dem Boden mit unseren Jacken untergelegt, jeden Morgen weckten uns die warmen Sonnenstrahlen um einen weiteren wunderbaren Tag des Lebens zu genießen und unsere Suche nach einem Segelschiff fortzusetzen. Nach rund einer Woche in Las Palmas machten wir uns auf Gran Canaria ein wenig kennen zu lernen und die anderen Häfen im Süden des rundlichen Insel einen Besuch abzustatten. Neben wunderbaren Menschen die wir auf der Tour kennenlernten, süßen Häfen, spendable Italiener und der einzigartigen Tradition der Hirten von Gran Canaria die mit einem 4-5m langen Holzstab in den Bergen auf und ab steigen um so mit den flinken Ziegen folgen zu können, hatten wir keinen Erfolg und kehrten mit großer Freude wieder zu unseren lieben Freunden in der „Tomatera“ zurück. Wir genossen das Leben mit unseren neuen Freunden sehr und entdeckten Dank Ihnen auch immer mehr von der hier in Las Palmas einfachen Art und Weise Essen aus Supermarktmülltonnen zu recyceln, im Fachrecycling- Jargon auch "containern" genannt.

Die Supermarktkette Hiper Dino war die am meisten vertretene in der Stadt und obwohl es auch andere Supermärkte gab die noch genießbare Lebensmittel in die Tonne warfen, war sie die einzigste Kette die den Müll nicht abschließen, verstecken oder sogar mit Chemieprodukten ungenießbar machten. Zunächst fragten wir die Angestellten um wieviel Uhr die Mülltonnen abholbereit rausgestellt werden, bevor wir dann pünktlich zur Schatzsuche, meistens beim Hinterausgang auf die vollen Container warteten. Nachdem die von den Mitarbeitern herausgestellten Container auf der Straße standen und auf den Abtransport warteten, hatten wir zwischen 10 und 20min. alles zu durchforsten.Tagtäglich sahen wir so zwischen 20kg und 50kg an Nahrungsmitteln die wir jedes mal wieder mit erstaunten Augen zwischen Pappkatons und Plastikmüll, welcher hier hier nicht separat recycelt wird, herausfischten. Es kam oft vor, dass wir nicht die einzigen waren die containerten und doch hatten wir nie Probleme und es gab immer genug um mit allen zu teilen. Vornehmlich fanden wir Milch- und Fleischprodukte, und es gab buchstäblich Stapelweise Jogurts und Milchdrinks. Desweiteren fanden wir fast jedes Mal Unmengen an frischen Brot sowie Obst und Gemüse, sonst gab es auch immer wieder ein wenig Überraschungsprodukte wie Kuchen, Salate, süßes Gebäck, Torten, Saußen, Eis etc. Das ganze wurde dann in der "Tomatera" sortiert und erfüllte Leib und Seele mit Freude. Es war so einfach und für uns teilweise einfach unmöglich zu glauben, und es gab nur eine Regel, die Mülltonnen und ihre Umgebung so sauber zurück zu lassen wie wir sie vorgefunden haben. Jeder sollte es mal versuchen und wenn einen das containern nicht so anlacht, dann direkt mit den Verantwortlichen sprechen, dann kann man sogar vieles direkt ohne Umweg über die Tonne bekommen. Wir drei, also Benjamin, Nicola und Ich, Raphael, machten uns so fast jeden Tag aufs neue auf die Mülltonnen der Supermärkte, aber auch die normalen die alle freizugänglich auf der Straße stehen durchforsteten wir nach Nützlichem. Unser fast tagtägliche Weg zum Yachthafen dauerte 30min.

Wir fanden jede Menge Interessantes, was wir am Ende des Tages in den „Free Shop“, also eine Art Geben und Nehmen Fundgrube in der „Tomatera“, ablieferten. Natürlich machten wir auch Kontakt und Freunde mit Bäckerein, Cafes, Restaurants und Bars die uns auch regelmäßig auf dem Weg mit nicht mehr verkaufbaren Köstlichkeiten und Gaben unterstützen. Ein Mal machten wir sogar die Probe in feinem Anzug nach alten Brot zu fragen und wurden auch dann reichlich beschenkt. Es ist also wirklich die Art und Weise wie man sich verkauft, also welche Philosophie hinter dem Fragen nach Essbaren steckt und vor allem wie man fragt, denn der Ton macht bekanntlich die Musik.

Hier gehts zum nächsten Artikel der Reise:
#10 Der Hafen und die Suche nach dem Schiff das unseren Traum Wirklichkeit werden lassen sollte

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